T. David u.a. (Hrsg.): Neue Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte

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Titel
Neue Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte. Nouvelles contributions à l’histoire économique


Herausgeber
David, Thomas; Tobias, Straumann; Simon, Teuscher
Reihe
Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte – Annuaire suisse d’histoire économique et sociale 30
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Florian Müller, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Das Thema Wirtschaft erlebt in den Geschichtswissenschaften in jüngster Zeit eine Wiederbelebung. Die historische Auseinandersetzung mit der Ökonomie ist eindeutig wieder in Mode. Nicht erst seit der Finanzkrise ab 2007 zeigen Historikerinnen und Historiker und zunehmend auch eine breitere Öffentlichkeit ein grösseres Interesse an wirtschaftshistorischen Themen. Ausdruck hiervon sind in der Schweiz unter anderem der Themenschwerpunkt Wirtschaftsgeschichte in der Zeitschrift traverse 2010/1 und das monumentale Standardwerk Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, das unter der Ägide der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschaft- und Sozialgeschichte entstanden und 2012 erschienen ist.

Wirtschaftsgeschichte, wie sie heute betrieben wird, hat sich indes seit ihrer letzten Hochphase in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt und differenziert. Überblickt man das Forschungsfeld, ist ein ausgeprägter Methodenpluralismus auszumachen. Zu den «traditionellen» und «erneuerten» Ansätzen der (wirtschaftswissenschaftlichen) Wirtschafts- beziehungsweise der (geschichtswissenschaftlichen) Wirtschafts- und Sozialgeschichte gesellen sich vermehrt auch kulturhistorisch angeregte Forschungen. Zeigte die neue Kulturgeschichte lange wenig Interesse an wirtschaftshistorischen Betrachtungsweisen, entdeckt sie ökonomische Themen nun für sich. Die Schweizerische Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hat diesen Entwicklungen mit der Tagung «Neue Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte» Rechnung getragen. Der 2015 erschienene Tagungsband will die neue Vielfalt an Untersuchungsgegenständen und methodischen Zugängen sichtbarmachen und «die ganze Breite der aktuellen Forschung an den Schweizer Universitäten [einfangen]» (S. 8).

Der Sammelband gliedert sich grob in vier thematische Teile. Im Folgenden werden die Beiträge summarisch dargestellt, um anschliessend den Tagungsband einer kritischen Würdigung zu unterziehen.

Jon Mathieu eröffnet den Band im ersten Teil «Theorien und Methoden» mit einem Beitrag zur Methodendiskussion der historischen Forschungen zu den Klimafolgen in der Vormoderne.

«Firmen, Branchen und Regionen» stehen in Teil 2 im Zentrum. Heinz Nauer untersucht anhand der Unternehmensgeschichte des Benziger Verlags (Einsiedeln) exemplarisch den bisher in der Forschung kaum beachteten Markt für katholische Massenware im 19. Jahrhundert. Anhand der beiden Fallbeispiele der Tourismusstadt Luzern und der Industriestadt Winterthur arbeitet Laura Fasol mit einem kulturhistorischen Ansatz die Bedeutung der Natur in der Konstruktion von Stadtidentitäten um 1900 heraus und betont die Verknüpfung zwischen Naturwahrnehmung und Wirtschaftsgeschichte. Benedikt Meyer geht den Wandlungen der Flugreise und der Flugreisenden zwischen 1919 und 2002 nach.

Gleich fünf Beiträge sind in Teil 3 unter dem Stichwort «Regulierung» versammelt. Nicolas Chachereau fokussiert in seinem Artikel auf die schweizerischen Interessensgruppen zugunsten eines Patentschutzes, um die erfolgreiche Einführung des Bundesgesetzes von 1888 zu erklären. Käse bildet den Rahmen für zwei Artikel. Roman K. Abt beschäftigt sich aus kulturhistorischer Perspektive mit der Problematisierung der Käse- und Getreidepreise und den Zielkonflikten der politischen Massnahmen zugunsten der in Konkurrenz stehenden Getreide- und Käseproduktion in der Schweiz zwischen 1910 und 1938. Dorothee Ryser untersucht demgegenüber anhand der Schweizerischen Käseunion staatliche und nichtstaatliche Formen der Regulierung des Milchmarktes und stellt mittels eines agrar- und wirtschaftspolitischen Fokus dar, wie die Käseunion als Mengen- und Preiskartell ab den Jahren 1933 bis 1939 unter dem Eindruck öffentlicher Kritik in den Blick staatlicher Aufsicht geriet. Anhand von drei Fallbeispielen zeigt Pierre Eichenberger auf, dass die Einführung von Ausgleichskassen – nach der Einführung der Erwerbsersatzordnung (EO) 1940 eine der zentralen Institutionen der sozialen Sicherheit in der Schweiz – innerhalb der Arbeitgeberverbände bereits in der Zwischenkriegszeit debattiert wurde und diese deren spätere Ausgestaltung massgeblich mitgestalteten. Beat Stüdli stellt schliesslich mittels der Untersuchung der Instrumente der Versicherungspolitik die kontinuierliche Regulierung des französischen Versicherungssektors bis hin zur Verstaatlichung der wichtigsten Konzerne zwischen 1900 und 1950 dar.

Den letzten Teil zu «Interdependenzen der Weltwirtschaft» eröffnet Juliane Schiel mit einer Untersuchung des venezianischen Sklavengeschäfts zwischen 1350 und 1450, in welcher sie die Bedeutung des persönlichen Beziehungsnetzes bei Transaktionen hervorhebt. Beatrix Purchart argumentiert in ihrem Beitrag unter Auswertung historischer Zeitreihen, dass die Übertragung der internationalen Finanzkrise von 1907 auf die Schweiz stärker durch realwirtschaftliche Nachfrageschocks und weniger durch monetäre Angebotsschocks erfolgte. Sebastian Alvarez beleuchtet die Schuldenkrise von 1982 bis 1989 und argumentiert, dass die US-Behörden infolge der Mexikokrise bei der Implementierung der Massnahmen zur Stützung des internationalen Finanzsystems eine führende Rolle einnahmen. Der Beitrag von Patricia Hongler verortet schliesslich den OEEC-Bericht zur Kakaowirtschaft von 1956 in seinem Entstehungskontext und insbesondere im Prozess der Dekolonisierung.

Der Tagungsband versammelt eine Reihe sehr innovativer und fundierter Beiträge und eröffnet neue und äusserst interessante Sichtweisen auf wirtschaftshistorische Themen, wobei die Qualität der Beiträge selbstredend variiert. Insgesamt zeigt sich eine erfreuliche Vielfalt an Fragestellungen. Entsprechend der Intention der Tagung zeigen die Artikel im Allgemeinen nur durch den Bezug zur Wirtschaftsgeschichte eine lose Verbindung auf und sind durch ein grosses Spektrum der thematischen und methodischen Zugänge gekennzeichnet. Die geographischen Untersuchungsräume umfassen in der Mehrheit die Schweiz (in transnationaler Perspektive), verschiedene Artikel fokussieren aber auf andere Weltregionen. Ebenso variieren die behandelten Zeitabschnitte, wobei das Schwergewicht auf dem 20. Jahrhundert liegt.

Die Beiträge in deutscher, französischer und englischer Sprache spiegeln die Schwerpunkte und Traditionen der einzelnen Universitäten in der Forschungslandschaft der schweizerischen Geschichtswissenschaften wider. Forschende der Mehrheit der schweizerischen Universitäten, namentlich der Universitäten Basel (2), Bern (1), Genf (1), Lausanne (2), Luzern (4) und Zürich (3) haben Beiträge zum Sammelband beigesteuert, wobei mit vier Autor/-innen auffallend viele Forschende an der Universität Luzern tätig sind. Der Tagungsband ist nicht zuletzt auch ein Abbild dieser verschiedenen Forschungstraditionen.

Der Sammelband wird insofern seinem Anspruch weitgehend gerecht, die Breite der wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen in der Schweiz abzubilden. Der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte kommt das Verdienst zu, den Dialog zwischen den Historikerinnen und Historikern unterschiedlicher Forschungsausrichtungen über die Sprachgrenzen hinaus zu fördern und Brücken zwischen den verschieden Forschungsansätzen zu schlagen. Trotz der erfreulichen Tendenz zu einem offenen Austausch von Forschenden unterschiedlicher Ausrichtung, die allenthalben zu beobachten ist, führt der Sammelband andererseits erneut vor Augen, dass die Methodendiskussionen, welche die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten geprägt haben, bis heute nachwirken. So treten auch in einigen der Beiträge (methodische) Abgrenzungen und Vorbehalte nach wie vor leise hervor. Es ist zu hoffen, dass diese Skepsis in Zukunft endgültig abgelegt, Synergien und Möglichkeiten zur Zusammenarbeit, die ohne Zweifel bestehen, besser genutzt und die Potenziale, die eine methodisch offene Wirtschaftsgeschichte bietet, verstärkt ausgeschöpft werden.

Zitierweise:
Florian Müller: Rezension zu: Thomas David, Tobias Straumann, Simon Teuscher (Hg.), Neue Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte – Nouvelles contributions à l’histoire économique, Zürich: Chronos Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 272-274.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 272-274.

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